Articles

Diagnose bipolarer Störungen im DSM-5

Posted on

Vor wenigen Wochen wurde nach vielen Jahren intensiver Arbeit die mit Spannung erwartete fünfte Auflage des Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM-5) veröffentlicht. Nach wie vor gilt, dass psychiatrische Diagnosen eher konsens- als validitätsbasiert zu sein scheinen (Cuthbert und Insel 2013; Bschor et al. 2012; Berk 2013) – etwas, das auch das DSM-5 nicht ändern wird. Trotzdem führt das DSM-5 einige wichtige Änderungen in Bezug auf die diagnostischen Kriterien für bipolare Störungen ein. Das International Journal of Bipolar Disorders fühlt sich geehrt, dass Jules Angst, der mit seiner Arbeit einen herausragenden Beitrag zu den Modifikationen bezüglich bipolarer Störungen im DSM-5 geleistet hat (Angst et al. 20112012), sich bereit erklärt hat, die Stärken, Probleme und Perspektiven dieser Änderungen in dem diesem Editorial beiliegenden Artikel zu kommentieren (Angst 2013).

Ein wesentliches Thema, das Jules Angst in dem begleitenden Paper (Angst 2013) dankenswerterweise aufgreift, ist in den letzten Jahren in der psychiatrischen Fachwelt heiß diskutiert worden – nämlich ob bipolare Störungen viel häufiger sind als bisher angenommen. Wenn dies der Fall ist, könnte man daraus schließen, dass die bisherigen diagnostischen Kriterien fälschlicherweise die korrekte Diagnose aller Fälle von bipolaren Störungen verhindert haben, weil sie zu restriktiv sind.

Im DSM-5 erhalten die bipolaren und verwandten Störungen, wie sie nun genannt werden, ein eigenes Kapitel zwischen den depressiven Störungen und den Schizophrenie-Spektrum-Störungen, das die bipolare I-Störung (die laut DSM-5 die klassische manisch-depressive Störung darstellt, mit der Ausnahme, dass weder eine depressive Episode noch eine Psychose zur Diagnose vorliegen muss), die bipolare II-Störung und die zyklothymische Störung umfasst. Darüber hinaus gibt es in diesem Kapitel nun separate diagnostische Kriterien für „manisch-ähnliche Phänomene“, die mit dem Gebrauch von Substanzen (entweder Missbrauchssubstanzen oder verschriebene Medikamente) oder mit medizinischen Bedingungen in Verbindung stehen. Um weitere Untersuchungen zu fördern, wird im DSM-5 ausdrücklich darauf hingewiesen, dass bipolar-ähnliche Phänomene, die nicht die diagnostischen Kriterien für eine bipolare I-Störung, eine bipolare II-Störung oder eine zyklothymische Störung erfüllen (d. h. kurzdauernde hypomanische Episoden und major depressive Episoden, hypomanische Episoden mit unzureichender Symptomatik und major depressive Episoden, hypomanische Episode ohne vorherige major depressive Episode und kurzdauernde Zyklothymie), werden unter dem Etikett „andere spezifizierte bipolare und verwandte Störungen“ zusammengefasst.

Angesichts dieser Änderungen scheint das DSM-5 mit der Idee übereinzustimmen, dass es eine Untererkennung der bipolaren Störungen gegeben hat. Allerdings wurden im Gegenzug die Pflichtsymptome (Gate-A-Kriterien), die vorhanden sein müssen, um die Kriterien für eine hypomanische oder manische Episode zu erfüllen, präzisiert. Während in der Vergangenheit nur eine ausgeprägte Periode abnormaler und anhaltend gehobener, expansiver oder reizbarer Stimmung notwendig war, müssen diese Symptome nun in Kombination mit anhaltend gesteigerter (zielgerichteter) Aktivität oder Energie, den größten Teil des Tages, fast jeden Tag vorhanden sein. Während einige mit diesem Schritt aus verständlichen Gründen nicht einverstanden sind (Angst et al. 20112012), sind wir der Meinung, dass dies ein kluger Ansatz ist, insbesondere im Hinblick auf die Diagnose der bipolaren II-Störung. Warum sind wir dieser Meinung?

Die bipolare II-Störung ist die einzige psychiatrische Störung, die typischerweise durch das Fehlen des kritischen Bestandteils, d.h. der hypomanen Episode, zum Zeitpunkt der Diagnose gekennzeichnet ist. Die Diagnose wird am häufigsten bei jungen Patienten gestellt, die sich mit einer (ersten) schweren depressiven Episode vorstellen. In diesen Fällen basiert die Diagnose ausschließlich auf der erhobenen psychiatrischen Anamnese, nicht auf der aktuellen psychopathologischen Beurteilung durch den Psychiater. Jede retrospektive Anamnese ist jedoch anfällig für einen Recall-Bias. Dies kann während einer depressiven Episode noch bedeutender sein. Darüber hinaus handelt es sich bei einer hypomanischen Episode um einen Zustand, der per Definition nicht schwer genug ist, um eine (signifikante) Beeinträchtigung der sozialen oder beruflichen Funktionsfähigkeit zu verursachen. Tatsächlich kann sie sogar mit einem erhöhten Maß an Kreativität einhergehen. Folglich wird eine hypomanische Episode vom Patienten häufig als ego-synton beurteilt. Um herauszufinden, ob zu irgendeinem Zeitpunkt in der Vergangenheit ein Stimmungsumschwung stattgefunden hat, der mit einer eindeutigen Veränderung der Funktionsfähigkeit einherging, die für die Person uncharakteristisch ist, wenn sie nicht symptomatisch ist, kann daher in erheblichem Maße von den Informationen abhängen, die von anderen, wie engen Freunden, Verwandten oder Partnern, zur Verfügung gestellt werden. Leider werden die Informationen dieser anderen Personen in wissenschaftlichen Studien, die sich mit der Diagnose einer bipolaren II-Störung befassen, nur selten erfasst. Eine Stimmungsänderung in Richtung gehobener Stimmung zum Beispiel ist in erster Linie eine subjektive Erfahrung, die nicht unbedingt mit einer eindeutigen Veränderung der Funktionsfähigkeit verbunden ist – und damit auch nicht unbedingt leicht für andere zugänglich. Im Gegensatz dazu muss eine (hypo)manie-assoziierte Stimmungsänderung per Definition mit einer eindeutigen Veränderung der Funktionsfähigkeit einhergehen. Daher ist eine weitere Spezifikation der (Hypo)manie-assoziierten Stimmungsänderung eindeutig erforderlich. Aus klinischer Sicht wird diese Stimmungsänderung gut durch den Begriff „hyper“ erfasst (was übrigens die Screening-Frage für (Hypo)manie im SCID für DSM-IV ist). Hyper zu sein, schließt immer ein, dass man sehr energiegeladen ist. Daher ist es aus klinischer und DSM-Perspektive ein völlig logischer und konsequenter Schritt, die Zunahme an (zielgerichteter) Aktivität/Energie als Gate-A-Kriterium im DSM-5 formell zur Veränderung der Stimmung hinzuzufügen.

Während Diagnosen verschiedene Funktionen haben können (z. B. als Werkzeug zur Kommunikation über Merkmale/Symptome oder als Rechtfertigung für die Inanspruchnahme von Leistungen und Erstattungen im Gesundheitssystem), ist die Information von Behandlungsentscheidungen eine der wichtigsten (Cuthbert und Insel 2013). In dem oben beschriebenen klinischen Beispiel (ein junger Patient mit einer ersten schweren depressiven Episode) hat die Frage, ob die Diagnose einer schweren depressiven Störung oder einer bipolaren II-Störung gestellt wird, einen großen und bedeutenden Einfluss auf die zukünftige Behandlung und insbesondere die Langzeitbehandlung. Nach den aktuellen Behandlungsrichtlinien wird ein junger Patient mit einer ersten depressiven Episode im Rahmen einer Major Depression wahrscheinlich über einen Zeitraum von 6 bis 12 Monaten mit einem Antidepressivum behandelt, abhängig von einer Vielzahl von (klinischen) Variablen, wie z. B. der Schwere der depressiven Episode oder der Familienanamnese (Bauer et al. 2013). Im Gegensatz dazu wird ein Patient mit der Diagnose einer bipolaren Depression wahrscheinlich entweder mit Quetiapin oder einer Kombination aus einem Antidepressivum und einem prophylaktischen Antimanikum (manchmal als „Stimmungsstabilisator“ bezeichnet) behandelt werden (Pfennig et al. 2012). Quetiapin oder der Stimmungsstabilisator wird, falls wirksam, bis auf weiteres gegeben. Eines der Kriterien für die Wirksamkeit wird die Verhinderung neuer hypomaner/manischer Episoden sein. Wenn wir nun die diagnostischen Kriterien als eine „Art Test für die zugrundeliegende, ätiologisch definierte Krankheit“ betrachten, wird die Senkung der diagnostischen Schwelle für bipolare Störungen, wie von einigen vorgeschlagen, die Wahrscheinlichkeit von falsch-positiven Ergebnissen erhöhen und die Wahrscheinlichkeit von falsch-negativen Ergebnissen verringern und umgekehrt (Zimmerman 2012). In Bezug auf unser Beispiel wird ein junger Patient mit einer schweren depressiven Episode, bei dem fälschlicherweise eine bipolare Störung diagnostiziert wird (während er in Wirklichkeit an einer unipolaren Depression leidet), mit einem prophylaktischen Antimanikum (Stimmungsstabilisator) behandelt, und diese Behandlung kann auf unbestimmte Zeit fortgesetzt werden, da eines der Kriterien für die Wirksamkeit die Verhinderung neuer manischer Episoden ist – die der Patient nicht entwickeln wird, da er in Wirklichkeit an einer unipolaren Depression leidet. Wird dagegen bei einem Patienten mit einer schweren depressiven Episode fälschlicherweise eine schwere depressive Störung diagnostiziert, während der Patient in Wirklichkeit an einer bipolaren II-Störung leidet (was der wahrscheinlichste Fall ist), wird der Patient mit einem Antidepressivum behandelt (was laut einer aktuellen Expertenumfrage eine legitime Behandlungsoption für eine bipolare II-Störung ist) (Pacchiarotti et al. 2013). Wenn der Patient nicht auf das Antidepressivum anspricht, wird es mit Lithium, Quetiapin, Aripiprazol oder Olanzapin augmentiert (Bauer et al. 2013). Lithium, Quetiapin, Aripiprazol und Olanzapin sind allesamt prophylaktische Antimanika (Stimmungsstabilisatoren), und die Kombination aus einem Antidepressivum und einem prophylaktischen Antimanikum ist eine praktikable Behandlungsoption für die Langzeitbehandlung von Patienten mit Bipolar-II-Störung (Pacchiarotti et al. 2013). Wenn ein solcher Patient während einer antidepressiven Monotherapie eine hypomanische oder manische Episode entwickelt, die nach dem Absetzen des Antidepressivums über einen längeren Zeitraum anhält, wird alternativ die Diagnose einer bipolaren Störung gemäß den aktuellen DSM-5-Kriterien gestellt, und die Person wird entsprechend behandelt. Daher sind die Folgen einer Fehldiagnose einer bipolaren Störung im Sinne des Gebots, „keinen Schaden anzurichten“, tendenziell schwerwiegender als die einer Fehldiagnose einer Major Depression (Frances und Jones 2012). Wenn das Ziel der Diagnose nicht nur darin besteht, aktuelle Behandlungsentscheidungen zu treffen, sondern auch dazu beizutragen, zukünftige Behandlungsoptionen zu entwickeln, kann die Teilnahme von Patienten mit fälschlich diagnostizierten bipolaren Störungen an genomweiten Assoziationsstudien (GWAS) statistisch signifikante Assoziationen verschleiern – und damit die Entwicklung maßgeschneiderter personalisierter Behandlungsoptionen für Patienten mit bipolaren Störungen, die auf den Ergebnissen dieser GWAS basieren, verhindern (Schulze 2010).

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die DSM-5-Kriterien aus unserer Sicht gut spezifizieren, was derzeit unter der Diagnose „bipolare Störungen“ verstanden wird (mit den aktuellen Behandlungsoptionen, die auf diesen Definitionen beruhen) und gleichzeitig eine weitere Erforschung der Art der Störungen (z. B. in Bezug auf das Ansprechen auf die Behandlung) ermöglichen, die zum jetzigen Zeitpunkt als mit bipolaren Störungen verwandte Störungen bezeichnet werden müssen.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.